Inzwischen habe ich mehrere Vorträge zum Thema Evidence Based Investment Analysis (EBIA) vor Analysten und andere Marktteilnehmern gehalten. Dabei wurden zwei besonders wichtige Fragen gestellt. Frage 1: Finanzanalysten scheinen das Konzept grundsätzlich sehr gut zu finden, haben aber Angst um ihre Jobs. Ist diese Angst berechtigt? Frage 2: Anleger profitieren am meisten von EBIA. Wie können sie sicherstellen, dass sie gute Investmentanalysen erhalten?
Hierzu habe ich einige Anmerkungen und Ideen:
EBIA mit konkreten Anforderungen an Analysten
Im Kern geht es bei EBIA – wie die Bezeichnung schon sagt – darum, dass Investmentanalysen auf Evidenzen basieren sollten.
Konkrete EBIA-Forderungen an Investmentanalysten lauten (s. auch DVFA):
- Alle effizient verfügbaren Daten und Research sollten berücksichtigt und widersprechende Daten und Research sollten erwähnt werden.
- Vorhersagen/Prognosen sollten begründet werden und falsifizierbar sein (Angabe von Zielwerten/Ranges bzw. Zielterminen/Ranges).
- Es sollen adäquate Modelle (unter Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse) ausgewählt werden.
- Analysen sollten auf Basis von Hypothesen erfolgen.
- (Big) Data mining soll vermieden werden. Alle – gerade auch „gescheiterte“ – Analyseversuche sollten transparent gemacht werden.
- Wenn Restriktionen und kleine Änderungen im Input zu größeren Veränderungen im Output führen, sollte das ebenfalls transparent dokumentiert werden.
- Es sollen adäquate Vergleiche/Benchmarks gewählt werden.
- Alle Kosten, die mit der Umsetzung der Erkenntnisse verbunden sind, sollen berücksichtigt werden.
Wollen Investmentanbieter Evidenz in dieser Form zeigen?
Diese EBIA-Forderungen sind aus Anlegersicht sofort nachvollziehbar. Anbieter von Investments tun sich damit aber möglicherweise schwer. Das soll an einem fiktiven Beispiel illustriert werden:
Das Management eines Produktanbieters möchte ein neues Produkt auf den Markt bringen. Ziel ist es, an dem wachsenden sogenannten Smart Beta Markt zu partizipieren. Der Finanzanalyst wird um Produktvorschläge gebeten.
Wenn der Finanzanalyst an effiziente Märkte glaubt, darf er gar keinen Produktvorschlag machen, denn eine Outperformance ist dann ja nicht möglich. Daher nehmen wir an, dass der Analyst nicht an immer voll effiziente Märkte glaubt.
Er durchsucht daher zunächst systematisch die akademische und praxisorientierte Fachliteratur, z.B. mit Hilfe der Datenbank www.ssrn.com. Dort findet er z.B. viele Studien die zeigen, dass es aktiven Portfoliomanagern typischerweise nicht gelingt, passive Benchmarks outzuperformen. Denselben oder anderen Studien ist zu entnehmen, dass es einen Publikationseffekt gibt: Kurz nachdem „Marktanomalien“, die Outperformances ermöglichen sollen, publiziert wurden, verschwinden diese typischerweise. Ganz aktuellen Analysen zufolge gab es z.B. den vielgenutzten Small Cap Effekt sogar nie (s. hier) und viele statistischen Analysen sind nicht aussagekräftig (s. hier).
Mühsame Suche nach und hohe Anforderungen an Outperformance
Wenn der Analyst Optimist ist, kann er trotzdem versuchen, eine noch nicht von anderen identifizierte Outperformancechance zu finden. Dazu kann er grundsätzlich große Datenmengen effizient mit leistungsfähiger Software durchsuchen. Ein besonders fortschrittlicher Analyst nutzt neben klassischen Finanzdaten auch extrafinanzielle Daten, Textanalysen, Sentimentanalysen, maschinelles Lernen etc..
Die Suche kann ohne explorativ oder Hypothesenbasiert sein. Hypothesen können wiederum aus wissenschaftlichen Papieren abgeleitet werden, für die es vielleicht noch nicht viele datenbasierte Analysen gibt.
Angenommen der Analyst findet Outperformancemöglichkeiten, dann muss die Outperformance so hoch sein, dass sie die Produktkosten der Anleger übersteigen. Bei Retailprodukten können neben den direkten Produktkosten auch die Implementierungskosten auf Anlegerseite ziemlich hoch sein. Die Messlatte für Outperformance ist also sehr hoch gelegt.
Ausserdem muss der Analyst überzeugt sein, dass die Outperformance auch noch einige Zeit anhält. Wenn andere die Ansätze des Analysten kopieren, ist die Outperformance bald gefährdet. Produktanbieter legen daher ungerne Details ihrer Analysen bzw. Vorgehensweisen offen. Selbst wissenschaftliche Studien oft nicht einfach replizierbar, weil Ihnen wesentlichen Angaben fehlen, die für einen Nachbau erforderlich sind (und weil kleine Änderungen in Inputs bzw. Modellen oft zu großen Änderungen in Outputs führen).
Transparenzdilemma
Wenn der Analyst den oben genannten EBIA Prinzipien folgt, müsste er darauf bestehen, dass alle Versuche, die dem finalisierten Produkt vorausgingen, veröffentlicht werden. Ausserdem müssten Tests durchgeführt und veröffentlicht werden, die zeigen, inwieweit kleine Abweichungen in den Restriktionen oder Modellen für das Produkt zu Änderungen im Output führen. In der Reinform von EBIA müssten zudem alle dem Produkt zugrunde liegenden Regeln und Kosten transparent gemacht werden.
Wenn der Analyst seine Analysen offenlegt, können diese identifizierten Outperformancemöglichkeiten aber sehr einfach von anderen kopiert werden.
Anbietermanagement wird Bedenken haben
Das wird aber das Management des Produktanbieters nicht wollen. Die Furcht vor Kopierern bzw. Dieben von geistigem Eigentum ist grundsätzlich gerechtfertigt, zumal es bisher noch keinen effizienten Schutz von geistigem Eigentum im Finanzbereich gibt. Allerdings ist das Reputationsrisiko für Kopierer/Diebe sehr hoch, wenn herauskommt, dass sie ohne „Lizenz“ kopiert bzw. gestohlen haben.
Aus Managementsicht besteht das Risiko aber vor allem darin, dass möglicherweise die Forderung erhoben wird, volle Transparenz auch für alle anderen bisher schon angebotenen Produkte bzw. Services zu bieten. Dann würde sich ziemlich sicher zeigen, dass viele der angeboten Produkte nur ausserordentlich geringe Outperformancechancen haben. Selbst für ein sauber nach EBIA Kriterien entwickeltes und vermarktetes Produkt könne sich die Voraussetzungen ändern, so dass sogar der Produktentwicklungsanalyst zu der Meinung kommen kann, dass das Produkt nicht mehr aktiv vermarktet oder sogar abgewickelt werde sollte.
Muss der Analyst fehlende Outperformancemöglichkeiten melden?
Wenn der Analyst, der sich zu EBIA verpflichtet, das so sieht, hat er ein Problem. Darf er weiter für eine solche Firma arbeiten, ohne etwas zu sagen, obwohl er weiß, dass Anlegern möglicherweise geschadet wird? Muss er Missstände offen legen? Darf er in der Konsequenz vielleicht nur noch für Firmen bzw. in Unternehmensbereichen ohne Outperformanceanspruch arbeiten, also für Anbieter von Indexprodukten?
EBIA-Chancen für Buy-Side Analysten, denn Anleger müssen auf unabhängiges Research setzen
Buy-Side Analysten sind von dieser Kritik weniger betroffen, denn sie sind ja gefordert, bestehende und neue Produkte auf ihre Evidenz hin zu überprüfen. Besonders wenn sich Anleger nicht darauf verlassen können, dass Sell-Side Analysten bzw. Produktanbieter EBIA Regeln folgen, sollten sie ihre eigenen Analysekapazitäten haben bzw. unabhängiges Research einkaufen. Zusätzliche Analysekosten können Anleger zumindest teilweise dadurch finanzieren, dass sie statt teurer aktiver Produkte künftig günstigere passive Produkte einkaufen.
Die wichtigste Forderung ist daher zunächst, dass Anleger EBIA entweder selbst durchführen müssen oder Research einkaufen, das EBIA-Anforderungen genügt.
Sell-Side Analysten müssen intern kritisieren oder sogar Whistle-Blower werden
Wer mit seinen Forderungen weiter gehen will, fordert EBIA auch von Produktanbietern und deren Sell Side Analysten.
Analysten, die bei ihren Arbeitgebern feststellen, die bestimmte Produkte oder Services nicht EBIA-Kriterien genügen, sollten zunächst intern versuchen, für deren Änderung bzw. Einstellung zu sorgen. Wenn das nicht geschieht, kann man über eine Pflicht nachdenken, „Whistleblowing“ zu betreiben, besonders wenn Analysten denken, dass Anleger nachhaltig geschädigt werden könnten.
Dieses Whistleblowing kann in einem ersten Schritt an eine Branchenvereinigungseinrichtung erfolgen, z.B. den Ombudsmann des Bundesverbandes Investment und Assetmanagement (BVI).
Wenn sich die Investmentbranche EBIA-Prinzipien verpflichten würde, könnte sie damit selbst etwas für ihre Reputation tun. Ein solcher Branchenverband könnte auch zumindest nationale Konflikte in Bezug auf das Kopieren bzw. den Diebstahl von Investmentideen behandeln.
Nur wenn die Branche bei der Selbstregulierung versagt, müssen weitere Eskalationsmöglichkeiten angedacht werden.
EBIA Vorreiter DVFA
Die DVFA (Deutsche Vereinigung für Finanzanalysten) hat EBIA meines Wissens international als erstes „besetzt“.
Wenn EBIA künftig zum Kodex von Analysten gehören sollte, was zu erhoffen ist, dann werden es Analysten bei einigen Produktanbietern schwer haben, die sich diesen Prinzipien nicht verpflichten wollen.
Anleger müssen aktiv nach EBIA fragen
Andererseits könnten Anleger bei ihrer Produktselektion künftig nachfragen, ob Anbieter einem EBIA Kodex folgen. So kann vor allem von der einflußreichen institutionellen Anlegerseite Druck auf Investmentanbieter ausgeübt werden.
Anbieter, die sich zu EBIA verpflichten, werden damit nicht nur als Produktanbieter sondern auch als Arbeitgeber für Sell-Side Analysten, für die EBIA wichtig ist, wieder interessant.
Rosige Zukunft vor allem für passive Anlagen, illiquide Investments und Buy-Side Analysten
Wahrscheinlich würde das dazu führen, dass künftig weniger diskretionäre Angebote angeboten werden und Anbieter keine Outperformance z.B. von Smart Beta Produkten mehr suggerieren, womit diese ganze Marktsegment gefährdet wird.
Besonders Buy-Side Analysten werden aber weiter stark gefragt sein: Nach sehr vielen Schätzungen wird es gibt künftig weiterhin eine große Nachfrage nach Kapitalanlagen geben. Außerdem es gibt mehr Indizes als einzelne Wertpapiere. Und eine Diversifikation über verschiedene Indizes bzw. Anlagesegmente wird von EBIA ja nicht grundsätzlich hinterfragt.
Für manche Anlagesegmente, wie viele illiquide Anlagen, gibt es dagegen kaum Indizes aber dafür wesentlich höhere Prüfungsanforderungen als für grundsätzlich jederzeit verkaufbare liquide Investments. Und illiquide Investments sind in vielen Portfolios nur zu einem geringen Anteil vertreten.
Außerdem wird sehr viel zu Kapitalanlagen publiziert, aber viele Publikationen entsprechen nicht allen EBIA Kriterien und müssen daher kritisch und teilweise zeitaufwändig geprüft werden.
Das ergibt genug Analyse- und Anlagemöglichkeiten, um zahlreiche Anbieter und Sell-Side Analysten zu rechtfertigen. Und Anleger bzw. Buy-Side Analysten haben mit der Auswahl von und der Allokation zu passiven und illiquiden Investments viel zu tun.